Hausarzt: Am Anfang von Diabetes muss der Patient sehr viele Informationen bewältigen

von | Nov 12, 2015 | Last updated Apr 25, 2023

1. Ein Patient, der mit Diabetes Typ 2 rechtzeitig diagnostiziert wird, hat die Möglichkeit, durch Änderung des Lebensstils das Fortschreiten der Krankheit zu verhindern, und gar seine Blutzuckerwerte wieder in den Normalbereich zu bekommen. Nichts desto trotz entscheiden sich einige Patienten, trotzdem nichts zu ändern, und stattdessen Medikamente zu nehmen.
Wie sind Ihre Erfahrungen in der Hinsicht, und wie erklären Sie sich das Verhalten?
Ich glaube, dass Verhaltensänderungen sehr schwierig zu bewerkstelligen sind. Es braucht einen Impuls, eine Entscheidung des betroffenen Menschen, eine Umsetzung, eine Kontrolle des Verhaltens und das Durchhalten dieser Veränderung über sehr lange Zeit. Dabei geht es nicht allein um eine Automatisierung von Verhaltensweisen, sondern um eine Überwindung mächtiger Antriebe, die ihren Ursprung in tiefen Hirnregionen (z.Bsp. dem Belohnungssystem) haben und die auch hormonell beeinflusst werden. So ist es für mich erklärbar, dass die „Rückfall“rate übergewichtiger Menschen nach einer Gewichtsabnahme deutlich höher als 90% ist.

2. Herr Pauer, Sie empfehlen bestimmten Patienten die App Noom. Welche Patientengruppen, insbesondere hinsichtlich Diabetes, sind dies?
Die App Noom empfehle ich gerne diabetischen Patienten, die ein deutliches Problem mit dem Übergewicht haben und abnehmen WOLLEN und ein mächtiges und nachhaltiges Unterstützungmittel brauchen. Einschränken sollte ich vielleicht, dass am Anfang der Erkrankung der Patient sehr viele Informationen bewältigen muss. In sehr vielen Fällen sind die NOOM Grundsätze absolut kompatibel zu Empfehlungen bei Diabetespatienten. Ich meine beispielsweise, dass es keine isolierte Bevorzugung oder Verdammung eines Nahrungsbestandteils wie beispielsweise Kohlenhydrate gibt, die Empfehlung zur moderaten Gewichtsabnahme und die Fokussierung auf die Nahrungsmittel mit geringerer Energiedichte etc..
Bei wenigen Patienten zum Beispiel mit Typ 1 Diabetes, die ihre aufzunehmenden Kohlenhydrate abschätzen müssen, um Insulindosierungen zu berechnen, wäre NOOM mit der kcal Berechnung zumeist eher verwirrend.

3. Welche Zielsetzungen verfolgen Sie und die Patienten durch den Einsatz der App?
Das Ziel liegt zumeist im Wunsch nach einer Gewichtsabnahme. Viele möchten mehr über das Essen und den Energiegehalt der Speisen lernen. Ich persönlich finde es einfach beeindruckend, dass mir die App eine Selbstkontrolle gestattet, die ebenso effektiv ist wie eine Fremdkontrolle in einer Weight Watcher Gruppe. Die Hürde, damit anzufangen erscheint mir auch niedriger zu sein.

4. Wie genau werten Sie mit den Patienten die in der App gesammelten Daten aus, bzw. nicht?
Ja, das wäre traumhaft, wenn ein Coaching der Patienten im Gespräch mit Hilfe der App möglich wäre. Ich habe mich – offen gesagt – darauf beschränkt, an die App zu erinnern und nochmals nachzufragen. Aber ich finde Ihre Anregung gut und werde das demnächst ausprobieren.

5. Worauf müssen die unter 2. genannten Personen in ihrer Ernährung besonders achten?
Die Ernährung wird im wesentlichen durch die Medikamente bestimmt. Bei der Behandlung mit einigen Medikamenten reicht von Seiten des Diabetes die Empfehlung, keine extremen „Diäten“ zu verwenden (z.Bsp. unter 800 – 1000 kcal), das funktioniert nicht bei Einnahme von Metformin. Bei anderen modernen Medikamenten ist eine ausgewogene Ernährung genau so möglich, wie NOOM es immer wieder verdeutlicht.
Medikamente, die eine Unterzuckerung verursachen können, benötigen unbedingt Blutzucker erhöhende Kohlenhydrate zu den Mahlzeiten. Dies sollten bevorzugt komplexe Kohlenhydrate, also beispielsweise Vollkornprodukte sein. Zu diesen Medikamenten gehören ältere Medikamente und natürlich Insulin. Falls diese Regeln oder Rechnungen mit Broteinheiten BE oder Kohlenhydrateinheiten KE (= 10 g KH) zu kompliziert werden, kann NOOM mit seinem anders gearteten Ansatz verwirren. Dies sollte zwischen Arzt und Patienten gut geklärt werden.

6. Wir möchten als Noom vermeiden den Eindruck zu erwecken, dass jemand an Diabetes selbst „schuld“ ist. Wie würden Sie dieses Argument entkräften, auch hinsichtlich der anderen existierenden Arten von Diabetes als Typ 2?
Diabetes Typ 2 hat überwiegend eine genetische Ursache. Bei einem betroffenen Elternteil beträgt das Risiko für die Nachkommen über 60%, ebenfalls einen Diabetes zu bekommen. Sind beide Elternteile betroffen, wächst das Risiko auf über 90%. Das heißt, dass niemand Schuld sein kann, wir können uns unsere Eltern nicht aussuchen. Für mich heißt das im Umkehrschluss auch, dass die „Selbstbehandlung“ durch einen gesunden Lebensstil (Bewegung, Ernährung) die ganze Familie betreffen sollte. Die Kinder der betroffenen haben ja ebenfalls ein Risiko und eine Prävention ist am effektivsten, wenn sie so früh wie möglich begonnen wird.
Typ 1 Diabetes ist dagegen eine Autoimmunerkrankung, sie trifft Menschen so schicksalshaft wie Rheuma, es werden momentan eine Reihe von Interventionen zur Prävention beforscht. Es gibt aber keine aktuellen Empfehlungen für erwachsene Menschen zur Vorbeugung. Wir haben auch hier keine Macht über diese Erkrankung. Dies gilt auch für seltene andere Diabeteserkrankungen (MODY Diabetes), die genetische Ursachen haben.

7. Was wäre Ihnen außerdem wichtig zu erwähnen?
Mir ist besonders wichtig, darauf hinzuweisen, dass bei dem Wunsch zur Gewichtsabnahme die Patienten sich kleine Ziele vornehmen. Selbst bei stark übergewichtigen Patienten verbessern fünf Kilogramm Gewichtsabnahme viele gesundheitliche Parameter wie Blutdruck, Blutzucker, körperliche Fitness usw. Schließlich motiviert das Erreichen selbstgesteckter Ziele den Patienten am besten, und das Risiko des Scheiterns nimmt ab, wenn Ziele erreichbarer werden. Ein letztes Wort zur Achtsamkeit: Dieser vielleicht zur Zeit etwas abgenutzte Begriff ist ein wichtiger Schlüssel zum Umgang mit dem eigenen Körper. Wenn wir uns bewusst machen, wie Hunger, Durst und Essen funktionieren, und wenn wir ein Gefühl für unseren Körper und unsere Bedürfnisse entwickeln, können wir ein tieferes Verständnis für unser Verhalten aufbauen. Das ist der Schlüssel dafür, Automatismen wahrzunehmen und dann anders handeln zu können. Ich finde, NOOM hilft dabei.

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